1. Klopstockstraße
Vielleicht lag es an der Unzuverlässigkeit meiner Eltern, an der stets wechselnden Lehrerschaft, den verschiedenen Adressen, dass ich mich letztendlich auf eine ganz bestimmte Konstante verließ, auf die ich jederzeit Zugriff haben sollte. Wie die ersten Jahre verliefen, liegt mal mehr, mal weniger in einem nonverbalen Nebel. Als es hieß, es sei richtig und normal, im Kindergarten zu sein, ging ich bereits nicht mehr dorthin.
Die vorgesetzten Spielassesiours, Gärtner und die Spielkameraden fand ich wohl unerträglich langweilig. Vielleicht war ich mehrere Male dort, doch nur ein Moment der Eigeninitiative blieb mir in Erinnerung und das auch nur vage. Ich wollte Büro und Postamt spielen, stempelte und tackerte dann doch alleine und zu Hause oder zeichnete in meinem typischen X-beinigen 90° Froschsitz oder Zwischenfersensitz auf dem Fußboden. Ich war meist so vertieft, dass ich weder Streitereien noch direkte Ansprachen meiner Eltern wahrnahm.
Mit vier oder fünf war ich anscheinend alt genug, weil man in den 70ern als kleines Kind allein über Kreuzungen, in den Kindergarten oder zum Kiosk lief, auch um dem Vater Zigaretten und Bier zu kaufen. Dazu brauchte es nur den unterzeichneten Zettel eines Erwachsenen. Manchmal blieb etwas für Wassereis oder Lakritzschnecken übrig. Wenn es schnell gehen musste, lief ich zum Zigarettenautomaten am Ende unserer Straße. Mein Arm war gerade lang genug, um zwei Zwei Mark Stücke einzuwerfen. Die fünfzig Pfennig Münze unter der Folie der Red Handle Packung durfte ich dann behalten.
Wir wohnten in der Klopstockstraße 23, einer Sackgasse in Hamm-Süden. Das Haus gehörte meiner Familie väterlicherseits. Der Schulhof grenzte direkt an unseren Garten und ich lief ziemlich oft auf der Mauer herum. Die Zukunft im Blick, während ich für die 1. Klasse heranreifte. Als Dezember-Geborene war ich spät dran, also im August mit sechs noch zu jung, mit sieben war ich dann so weit. Ich kannte keines der I-Männchen und wurde mit meinem gelben Leder-Tornister, Schultüte und zwei Jungs etwas stolz und beschämt vor dem evangelischen Gemeindezentrum fotografiert. Die Zeit im Schulgebäude ist wie weggefegt. Einmal rief ich sehr laut im Unterricht, weil ich Frau Vogel sagen hörte, es solle jetzt mal jemand ganz laut schreien. Ich traute mich und sie meinte genau das Gegenteil.
Das Schulgelände hatte drei Gebäude. Wir wurden irgendwann für eine Weile in das Ältere umquartiert. Auf dem Weg dorthin hob einer der Jungs meinen Schottenrock hoch, um festzustellen, ob ich ein Junge oder ein Mädchen sei. Meine Haare hatte meine Mutter so schief und kurz geschnitten, dass ich oft gefragt wurde.
Die Zwillinge riefen einmal vom Baum, der an das Schulgelände grenzte, dass mein Vater sie bis hoch zu unserer Dachgeschosswohnung hörte und mir Bescheid gab. Und der Moment, als Marco Fischer und Dennis Eismann durch das Schlüsselloch in Marcos Spielkeller schielten, um herauszufinden, wie mein Geschlechtsteil denn nun aussah. An sehr viel mehr kann ich mich aus dieser ersten Schulzeit nicht erinnern.
Ich trainierte ab meinem 12. Lebensjahr und lief gerne lange Strecken. Bevor ich mit ca. 13 im Leichtathletik-Verein SC Eintracht Hamm von einem Trainer aus dem Osten um den Platz gescheucht wurde, musste ich noch ein paar Mal das Zu Hause und die Schule wechseln. Bei den Kreismeisterschaften brach ich während des 800 Meter Laufs zusammen, nachdem ich die erste Runde führte. Langstrecke blieb dennoch mein Ding, was mich sehr viel später zum Marathon brachte, den ich ohne Verein in 03:49 schaffte. Die Dusche im Ziel quasi, denn der Hanse Marathon findet vor meiner Haustür statt, daher konnte ich irgendwann nicht mehr anders. Zweimal, dann war es genug.
Als ich 4 Jahre alt war, wurde meine Schwester mit einem wachsenden Wilms-Tumor (Nierenkrebs) geboren, der ein Jahr später die Familie in Bann zog und mich ständig mit ins Uni-Krankenhaus Münster und Hannover. Meine Mutter war zu der Zeit noch Kinderkrankenschwester und wie mein Vater gerade mal Mitte 20. Er arbeitete als Goldschmied und hatte seine Werkstatt unten im Haus. Meistens trank er da auch heimlich mehr Bier, als zugegeben. Damals lief einiges sehr chaotisch. Ich war oft und gerne bei den Großeltern mütterlicherseits, die zur Miete in einem der Mehrfamilienhäuser meiner Familie väterlicherseits wohnten.
2. Heideweg
Meine Eltern stritten sich häufiger und auch sehr heftig. Der erste Umzug war dann so mit neun ohne meinen Vater. Ich kam auf eine neue Grundschule in Westtünnen und wir wohnten über den Eltern meiner Mutter, wo sie dann auch Miete an Familie Oelker zahlte. So richtig getrennt waren die beiden nicht. Irgendwann kam mein Vater, ich nannte ihn Etti, weil Edwin und meine Mutter Mutti, heimlich aus dem Schlafzimmer geschlichen. Wir zogen also wieder um.
Meine Urgroßmutter väterlicherseits wohnte in derselben Straße in einem großen und ansehnlichen Haus mit Gemüsegarten. Sie war wohl katholisch, denn ich erinnere außer dem kratzigen Fuß-Kipp-Stuhl an diese religiöse Wanddekoration. Maria war schlank, topfit und sehr elegant, selbst mit Gartenschürze und frisch geernteten Gemüse in ihren schlanken Händen. Sie war irgendwie streng und anders als ihre Tochter, rauchte sie nicht. Sie starb dann irgendwann. Etti und ich restaurierten den alten Kleiderschrank, den wir bei ihr auf dem Dachboden fanden, und zogen den Lack mit Säure vom Holz ab. Der Schrank war seitdem meiner und steht auch heute trotz mehrfachen Ab-und Aufbau stabil.
Die Dietrich Bonhoeffer Schule war meine zweite Grundschule. Ich erinnere mich an die Pausen auf dem Hof, an Räuber und Gendarm, an Gummitwist, Seilspringen, die sogenannte Todesschaukel und an meinen Unfall. Mein oberer Schneidezahn war mein Tribut. Statt des wagemutigen Manövers an der Stange, wie man vermuten könnte, war es eine schlichte Bananenschale, auf der ich vor dem Eingang der Schule ausrutschte. Ein Schneidezahn war dann kürzer als der andere, der dann angeglichen wurde. Später wurde die Wurzelspitze gekappt, der Zahn so lange es ging geflickt und als ich alt genug war, meine Zahnarztrechnung selbst zu bezahlen, gönnte ich mir die Brücke. Von der heftigen Prozedur des Kieferchirurgen im Allee-Center-Hamm will ich nicht erzählen, das kam einer viel zu frühen Misshandlung meines Schädels gleich, ganz zu schweigen von schlaflosen Nächten mit einem Spangenbogen im Gesicht. Immerhin war meine Mutter abgeneigt, als es um meine Oberschenkel ging, die eben etwas nach innen gedreht sind und gebrochen werden sollten, um spätere Schmerzen im Rücken zu vermeiden. Pilé kann ich nicht, und wenn ich etwas unaufmerksam bin, laufe ich auch heute noch etwas “etwas über den Onkel”. Während der Westtünnen-Phase erinnere ich mich auch an die Besuche in der evangelischen Kirche mit meiner Oma. Sie war selbst Küsterin in Dortmund-Eving. Sie kam aus Görlitz und mein Opa aus Dresden, beide vor 1915 geboren und meine Lieblingsverwandten.
3. Haus Galen
Mein Vater war sehr ambitioniert und machte eine Ausbildung zum Pharmareferenten. Das war einer der bestbezahlten Berufe ohne Abitur. In den 80ern boomte das Geschäft, NLP war inklusive. Eine alte Bekannte meines Vaters war die Tochter eines gut situierten Arztes und frisch mit einem italienischen Arzt verheiratet. Sie wohnten mit zwei Kindern im Haus Galen Nr. 2 in Dorfwelver in der Soester Börde. Das riesige Fachwerkhaus mit mehreren Hektar Land gehörte ihnen. Die Familie hatte bald ein zweites Haus gekauft. Der Zweitgeborene war als Kleinkind bereits Besitzer von Haus Galen und dann quasi unser Vermieter. Für tausend Mark im Monat wohnten wir insgesamt 3–4 Jahre auf dem Land. Django von der Teufelsspitze und Dark Lady waren während der Zeit auf dem Land meine Verbündeten: Ein reinrassiger Schäferhund und eine Stute, halb Araber, halb englisches Pony. Der riesige Hund schlief auch schonmal nachts in meinem Bett, wenn ich allein zu Hause war. Der fletschte neben mir auch hart die Zähne, sobald Edwin jähzornig wurde. Wir wurden dann beide verprügelt.
Es dauerte nicht lange und Etti hatte Mutti davon überzeugt, ebenfalls die Pharmareferentenausbildung zu machen. Meine Eltern verdienten dann jeweils rund fünftausend Mark im Monat plus Spesen und Firmenwagen und was sie sonst noch so nebenher machten. Die Autos passten hintereinander in den Kuhstall und für weitere war genügend Platz auf dem Hof. Die Partys waren wohl eine Mischung aus Arbeit, Spesen wie die Verbrennung abgelaufener Medikamente. Als beide gerade mal dreißig waren, hatte meine Mutter jede Menge für Klamotten und mein Vater wahrscheinlich genauso viel Geld für Alkohol ausgegeben.
Eva hatte sich nach extra Kuren mit meiner Mutter von ihrem Krebs erholt. Ich musste währenddessen den alkoholisierten Vater, manchmal auch seine mit Ethanol und Marlboro parfümierte Mutter und die beinahe täglichen körperlichen Übergriffe allein ertragen. Ob meine Mutter anwesend war oder nicht, half nichts. Etti prügelte entweder Mutti, dass ich dazwischen ging oder er schlug mir ins Gesicht und wahlweise mit seinem Ledergürtel auf meinen Popo.
Weihnachten knallte es üblicherweise auf allen Ebenen. Wir drei Mädels packten es und fuhren mit dem Käfer nach Beckum zu Bekannten meiner Mutter und anschließend ins Frauenhaus. Ich mochte die Tatsache, dass auch ich mal in den Genuss kam, mehr Zeit mit meiner Mutter zu verbringen. Wir schliefen in einem Raum, der an einen sehr großen Flur angeschlossen war. Dort fuhr ich Rollschuh und trug einen neuen, gebrauchten langen Rock, den ich in den Kleiderspenden fand. Etti, der mittlerweile nur noch „das Arschloch“ genannt wurde, musste draußen bleiben. Wir verbrachten die Feiertage inklusive Silvester im Frauenhaus.
Ich war bereits auf einer Mädchenschule in Unna angemeldet, kam dann aber aufs Konrad von Soest Gymnasium und musste um sechs Uhr aufstehen, 4 km mit dem Fahrrad zum Bahnhof, dann mit dem Zug nach Soest und mit dem Bus zur Schule fahren. Ich glaube, ein oder zweimal saß ich im falschen Bus und stand pünktlich vor einem anderen Gymnasium. Damals gab es Telefonzellen und die Nummer von zu Hause hatte ich im Kopf. Ich rief panisch zu Hause an und erreichte noch meine Mutter. Ich hatte ein total schlechtes Gewissen und Angst vor Bestrafung und Vorwürfen wegen meiner Dummheit. Vielleicht war es nicht ganz so schlimm, doch insgesamt gab’s zu Hause definitiv stets mehr Peitsche als süße Teilschen´.
4. Klopstockstraße
Mutti und Etti hatten sich inzwischen wieder „versöhnt“ und wir zogen gemeinsam zurück in die Klopstockstraße. Die unteren beiden Wohnungen mit Durchbruch zum Keller, Wintergarten und Garten, der ja an den Schulhof angrenzte, sollten das nächste zu Hause sein. Es wurde viel und teuer renoviert, wir bekamen Fußbodenheizung, Porzellantürgriffe, zwei neue Bäder, neue Sofas und eine Glastür zum neuen großen Essraum mit offener Küche, gegen die immer mal wieder jemand lief. All das brachte nur keinen Frieden in die Familie.
Ich wurde umgeschult, wechselte das Gymnasium und blieb in der achten Klasse sitzen. Laut Geschichts- und Deutschlehrer war ich sprachlich unbegabt und Englisch konnte leider niemand in der Familie. Ich bekam zeitweise Nachhilfe, was nicht viel half und Latein hat’s dann auch nicht rausgehauen. Also stand ich wieder vor einer Gruppe Jugendlicher und wurde als die Neue vorgestellt.
Das Drama nahm zu Hause dann richtig Fahrt auf. Mit “Polizei meldet: Edwin O. bringt Kreuzung zum Stillstand!”, waren wir Stadtgespräch. Etti verfolgte Mutti auf der Hauptstraße Richtung Soest, brachte ihren Wagen zum Stehen, und als er versuchte, sie herauszuziehen, sprühte sie ihm Pfefferspray in sein Gesicht. So stand es zumindest in der Zeitung. Muttis neuer Freund, ein holländischer junger Zahnarzt, beschützte sie vor meinem Vater. Ich wurde dann meistens vertrimmt, wenn sie die Wohnung verließ. Eh, die Schwester war vier Jahre jünger, meist auf Kur und durch ihre Krankengeschichte wahrscheinlich unantastbar. Folglich wurde ich regelmäßig versohlt, vermöbelt, geschlagen und geprügelt. „Indianer kennt kein´ Schmerz“ und „Mir tut das mehr weh als dir“ machte mich so wütend, dass ich meine körperlichen Schmerzen darüber fast vergaß.
5. Ostenallee
Das neue zu Hause war gegenüber der Bücherei und der Musikschule über einem Sex Shop. Dort wurde manchmal der Schlüssel hinterlegt, damit wir nach der Schule in die Wohnung konnten. Mutti arbeitete weiterhin als Pharmareferentin, meistens halbtags, sie war schnell. Die beiden Zahnärzte waren unsere neuen Nachbarn, Eric und Bert. Bert war Muttis neuer Lover. Bevor ich mit Mutti und Eva in die Innenstadt zog, wurde ich von der Familienrichterin befragt. Ich gab die Antwort, die alle für richtig hielten. Ich hatte so meine Zweifel. Am liebsten wäre ich weder bei Mutti noch bei Etti geblieben. Ich empfand ihn als viel zu aggressiv, sie allerdings viel zu undurchsichtig und unnahbar. Im Grunde behandelten mich beide schlecht bis gar nicht. Es folgte der Rosenkrieg Oelker gegen Oelker. Sie stritten sich um das Sorgerecht und um das Geld. Etti war nur noch „das Arschloch“ und es eskalierte mehrfach. Er brach tatsächlich bei uns ein und spritzte Salzsäure über Muttis Klamotten, was dazu führte, dass auch unsere nach dem Waschen zerlöchert waren. Einmal wollte er mein Fahrrad klauen, nahm jedoch versehentlich das der Nachbarin mit. Viele solcher Dinge häuften sich und es drehte sich doch hauptsächlich um Mutti, die sich mit Mitte 30 in der Gesellschaft nun emanzipieren wollte. Ich hab´ so einiges angestellt, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das brachte außer Unverständnis und Abwehr nicht viel, weil ich es wohl mit einer NLP geschulten und kühlen Materialistin zu tun hatte. 1989 kam der nächste Lover mit Rosen. Wir, das heißt ich und auch meine Schwester, nannten ihn den „italienischen Schnellspritzer“. Er hatte bereits sechs Kinder von fünf Frauen und meine Mutter wollte auch noch eins. Der Holländer zögerte wohl zu lang. In dieser Zeit wurde ich mit 100 DM Taschengeld in gewisser Weise vom Verantwortungsbereich meiner Mutter abgeschnitten, quasi freigekauft und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass es an der Zeit sei, „meine Tage“ zu bekommen. Ich glaube, ich war sechzehn oder kurz davor.
6. Hermelinweg
Unsere neue Adresse war im Hammer Osten. Ich durfte in einem von Mutti eingerichteten Zimmer im Keller wohnen und kam auch durch die Waschküche ins Haus. Trotz Teppichboden malte ich dort und einen Abend in der Woche für ein paar Stunden bei Eckart Wendler im Hammonense Gymnasium. Als er erfuhr, dass ich den Kurs von meinem Taschengeld bezahle, winkte er ab: „Lass mal, brauchst du nicht!”. Ich war das einzige Kind und mit Abstand der jüngste Kursteilnehmer. Der Hinweis für den Unterricht kam von einer Arbeitskollegin meiner Mutter, die Hobbymalerin war und eine Schulfreundin von Susanne. Susanne und meine Mutter waren beide gerade schwanger. Frühling 90´ fuhr ich mit Susanne und Kerstin, die beide so Mitte zwanzig waren, mit dem „Carlo Magno” nach Rapallo, so hieß der Zug, der damals jeden Morgen um 06:00 in Dortmund losfuhr. Kerstin und ich blieben 2–3 Nächte, Susanne blieb bei ihrem Freund, und ich fuhr in den Osterferien nochmal alleine mit dem Carlo Magno die vierzehn Stunden nach Ligurien.
Federico und Susanne kannten sich aus New York, er Künstler, Jahrgang 54´ wie meine Mutter, sie hatte bereits Kunst an der Art Students League studiert und war Floristin. Die beiden wohnten in einem Haus der Commune von Santa Margherita Ligure mit Garten, Atelier und zwei großen Palmen vor der Tür. Ich durfte Federicos Arbeitsmaterialien benutzen und half im Studio. Ich fühlte mich sicher neben diesem erfahrenen Künstler. Es war ähnlich wie mit meinem Großvater, der auf sehr filigrane Weise schrieb, zeichnete oder stillschweigend die Briefmarken in die Alben sortierte. Ohne, dass jemand etwas sagen musste, waren wir jeder auf seine Weise in Kommunikation und in Ruhe zeitlos. In der Gegenwart von Eckart Wendler, Federico und meinem Großvater konnte ich zeichnen, malen und mich vollkommen entfalten, ohne jederzeit Gefahr zu laufen, heftig angegangen zu werden.
Mein Vater war oft kreativ, vielleicht auch künstlerisch, er hatte allerdings weder einen Plan, noch die Ruhe oder das notwendige innere Vertrauen.
Juni 1990 wurde meine Halbschwester Laura geboren, im Oktober Delfo, ein Jahr später Athos, die Söhne von Federico und Susanne. Ich reiste zu jeder freien Gelegenheit nach Ligurien und wechselte die Windeln von insgesamt drei deutsch-italienischen Kindern. Die Familie wohnte bald in Westfalen und während der Sommermonate in Portofino.
Kinder hütete ich schon seit meinem zehnten Lebensjahr und übernachtete oft und gerne bei anderen Familien. Zuerst bei den Galati Kindern. Die Eltern gingen aus und ich blieb mit ihren insgesamt drei kleinen Kindern in ihrem neuen Fachwerkhaus. Auch während der Partys auf dem Hof übernachtete ich dort. Ich war elf oder zwölf, als einer der Nachbarn zu Gast war. Man kannte ihn, er wurde laut und deutlich angekündigt. Also wusste ich, dass ein Künstler neben mir stand. Man kann ihn als Lokalmatador abtun, jedoch war dies ein Schlüsselmoment für mich. Ich wusste damals, dass es also möglich ist, Künstler zu sein. 2008 kaufte Otmar Alt eins meiner Bilder. Es war ein Monatshase, ein Vorgänger der Tageshasen. Er ließ seinen Galeristen, der meine Ausstellung im Kunstverein Hamm kuratierte, nach einem Preisnachlass. Ich ließ ihn herzlich grüßen und erinnerte ihn an seine Künstler-Ehre. Das waren auch schon die zwei gemeinsamen Erlebnisse.
Insgesamt durfte ich in mindestens zwölf Haushalten ungefragt den Kühlschrank öffnen. Ich zähle bis dahin zwar sechs Meldeadressen, blieb jedoch oft bei Oma und Opa in Westtünnen, bei den Galatis, den Nachbarn, bei Simons Eltern zum Babysitten, bei der Rau Familie, wo ich ab 1990 Weihnachten verbrachte und den Schiaffinos. Während meiner Abiturphase war der gefüllte Kühlschrank bei meiner Mutter eingeschränkter als sonst wo. “Das ist Mein Joghurt, kauf dir gefälligst selbst einen!”. Ab meinem sechzehnten Lebensjahr hatte Mutti anscheinend beschlossen, dass ich als Mitbewohnerin gelte, immerhin musste ich keine Miete zahlen.
Unsere Nachbarin Anne kam kurz vor Weihnachten 1990 auf mich zu und freute sich, weil wir nach Gran Canaria fliegen würden. Das war wirklich eine echte Überraschung für mich! Ich lief aufgeregt zu Mutti, die dann meinte, „ja, Eva, Laura und ich, du wolltest nicht, ich hab´dich ja gefragt.“. Ich war verwirrt. Wie konnte ich zum ersten mal davon erfahren und überrascht sein und gleichzeitig nein dazu gesagt haben? Sie meinte das tasächlich ernst und an ein Geschenk zu Weihnahten kann ich mich auch nicht erinnern. Lauras Papa flog nicht mit, sein Restaurant war über die Feiertage ausgebucht. Ich machte es mir alleine vorm Fernseher gemütlich und hatte bereits Nicole und Mela Bescheid gegeben. Die und alle anderen, die ihre Eltern in der Nachbarschaft besuchten und bereits Studenten waren, kamen und die Party stieg. Ich dachte, na ja, ich kann schmollen, weil ich alleine gelassen werde oder ich mach´mich als Gastgeber beliebt.
Obwohl ich die Wohnung am nächsten Morgen picobello gesäubert und auch den Rotwein restlos vom teuren weißen Teppich entfernt hatte, fand es Mutti richtig, mich nach ihrer Rückkehr aus dem Badezimmer zu zerren und mich aus dem Haus zu werfen. Ich konnte mir gerade noch den Wintermantel schnappen, denn ich kam grade aus der Dusche, hatte nasse Haare und trug nur Opas Schlafanzug. Ich lief zu einer Schulfreundin. Nachdem ihre Mutter mich dann gesund gepflegt hatte, denn ich bekam eine Hirnhautentzündung, durfte ich irgendwann wieder nach Hause, die Schule ging ja auch wieder los. An ein klärendes Gespräch oder eine Versöhnung kann ich mich nicht erinnern.
Von den hundert Mark blieb wegen der Schulbücher, Schuhe und Kleidung und der Joghurt nichts übrig. Die Babysitter-Kinder waren irgendwann zu alt. In Portofino half ich bei den Ausstellungen, verkaufte ab und an auch selbst ein Bild und jobbte dann tatsächlich in der Anwaltspraxis unseres Nachbarn und putzte die Büros. Sein Kollege war Nicoles Stiefvater, der ihr vor einiger Zeit davon abriet, mit mir zu verkehren, als der Rosenkrieg Stadtgespräch war. Lange habe ich die Praxis nicht geputzt, ich fühlte mich von meiner Mutter genötigt, denn im Grunde brauchte ich das Geld nicht wirklich. Vielleicht wollte sie mich daran gewöhnen, so etwas als notwendig zu akzeptieren, wenn man mehr will, also mehr gebrandmarkte Sweatshirts und Taschen.
Der Vater meines Vaters war schon vor meiner Geburt gestorben und die Mutter nannte ich leider nur Kotzkuh-Waltraud, weil sie Kette rauchte und nicht kochen konnte. Daher spreche ich ausschließlich von meinen Großeltern mütterlicherseits. Allerdings mussten Eva und ich mal bei ihr zu Mittag essen. Mir hatten sie eine feste Zahnspange eingepflanzt und so blieb das kalte Kotelett zwischen den Drähten klemmen, was ich mit Fanta auch nicht wirklich runterspülen wollte, der kalte Milchreis war sauer und sie paffte eine nach der anderen. Ich glaube, sie hatte sogar die Fenster geschlossen und die Rollläden halb runter.
Mein Großvater starb kurz nach der Geburt von Laura. Ich ahnte das schon eine Weile vorher und war gefasst, als Mutti kurz in mein Zimmer spähte: „Dein Opa liegt im Sterben.“. Fritz war während des Kriegs bei der Bahn und dann Steiger in der Zeche Dortmund-Eving. Mutti war das Nesthäkchen und eine von vier Geschwistern. Oma strickte am laufenden Band und deckte dreimal täglich pünktlich den Tisch. Ich liebte diese Zuverlässigkeit und fühlte mich bei den beiden immer geborgen und sicher. Oma wohnte nach Opas Tod noch eine Weile alleine und später bei uns. Sie hatte vorher für meinen Führerschein heimlich Geld unterm Teppich gespart: „Sag’s Mutti nicht!“. Mutti fuhr gerne schnell und forsch und als ihr Lappen für kurze Zeit weg war, sollte ich sie fahren. Ich fand es schon sehr traurig, dass sie das einfach so von mir verlangte und ich mich auch nicht groß dagegen wehrte. Ich hoffte noch auf irgendeine Form von familiärer Aufmerksamkeit, also investierte ich brav weiter.
1992 wechselte ich die Schule. Ich war in der 11.2, bereits achtzehn und hielt es am Beisenkamp nicht mehr aus. Dieses Gymnasium war voll von Ärzte- und Lehrer Kindern, die mich auslachten, weil ich statt sichtbaren Firmennamen auf meinem T-Shirt gebrauchte und zu eigene Kleidung trug.
Die Kunstlehrerin war außerdem Warhol Fan, zog ihresgleichen vor und glaubte meinen Bildern nicht. Sie war schon mehr an Kunstinterpretation und Geschichten als an der Malerei selbst interessiert. In der Zehnten oder Elften sollten wir ein dynamisches Bild malen, was ich tat: Ein kubistischer Rennwagen im Hochformat, der dann angeblich von Delaunay kopiert war. Sie wurde von ihrer Kollegin, meiner vorigen Lehrerin, darüber aufgeklärt, dass ich seit einiger Zeit Unterricht bei Wendler hatte und mein Bild tatsächlich von mir stammte. Ich bekam dann doch wieder die 1+.
Ich meldete mich also selbständig im Freiherr-vom-Stein Gymnasium an und traf wieder auf die gleichen Jungs, mit denen ich in der Achten sitzen blieb. In den offenen und hohen Räumen kam ich einfach besser klar. Ich hatte noch vier Halb-Schuljahre vor der Nase und musste einfach Punkte fürs Abitur sammeln. Spät eingeschult, die achte Klasse wiederholt, insgesamt fünf Schulen, sechs Klassen, fünf Umzüge und mit zwanzig Abitur, war ich während der Notenvergabe wieder in Ligurien. Nach den Abiklausuren fuhr ich wieder direkt nach Portofino und ließ mir die Abiturergebnisse von Mutti telefonisch durchgeben. Sie las stoisch vor: LK Pädagogik 13, LK Biologie 13, Mathematik 14, Kunst 15. Ich hatte also ausschließlich Einsen in den Prüfungen und kam so auf einen Schnitt von 2,7. Noch emotionsloser sagte sie, ich müsse zur Nachprüfung erscheinen. Ich blieb in Italien. Ich hatte innerhalb von drei Wochen alles für die Klausuren gelernt, nachdem der Schuldirektor meinte, ich müsste aufgrund meiner Fehlstunden längst im Sarg liegen. Mathematik war einfach, nachdem ich eine Klasse wiederholen musste. Kunst war eh klar, nur leider reichte die Schülerzahl für einen Leistungskurs nicht aus. Trotz fünf in Deutsch, war ich in Erziehungswissenschaften weit vorne und in Bio war viel nachzuvollziehen, also verteilte ich die Inhalte sauber geordnet und gut leserlich an sämtliche Wände in meinem Zimmer und im Bad.