Zur Vergabe mit anschließendem Abi-Ball kam ich nochmal nach Hause und packte dann auch so ziemlich alles, was ich für die Zukunft unbedingt mitnehmen wollte, in meinen neuen lila Schalenkoffer. Das Ticket war bezahlt, ich hatte in Italien 500 DM verdient, Susanne den Nanny-Job geklärt und ich flog nach New York. Laut Muttis Plan hätte ich sonst in einer Ente als Mitfahrerin meiner älteren Cousine und ihrer Freundin auf dem Weg nach Paris gesessen. Andere bekamen von ihren Eltern einen VW, Audi oder Mercedes zum Abi. Bei mir waren es vielleicht sogar 400 DM, wenn Mutti die nicht doch noch behalten hat. Ich weiß es nicht mehr so genau, irgendwie waren die Mädels nur beleidigt, dass ich bereits eigene Pläne hatte.
Meine neue Adresse war in den ersten drei Wochen in der Lexington Avenue im deutschen Viertel der Upper East Side. Die Situation war furchtbar! Die Mutter eines Kleinkindes hatte mich in einem begehbaren Kleiderschrank ohne Fenster untergebracht, das Bett war zu kurz und super schmal. Mein Koffer passte nicht mal unters Bett. Weil ich in den USA noch nicht volljährig und die Frau dazu noch ängstlich war, durfte ich den Wohnblock quasi nicht verlassen. In den ersten Wochen war ich zwar mitten in NYC, ging jedoch täglich mit dem Kinderwagen in einem Radius von gerade mal 400 Metern spazieren und durfte das Kind bewachen, was natürlich kein Wort von sich gab. An den Wochenenden durfte ich dann schon raus und hielt mich nicht wirklich an die merkwürdigen Regeln dieser Herbergsmutter. Ich wurde ohnehin sehr schlecht bezahlt.
Ich hatte drei Telefonnummern von Susanne: Steffi, ihre Münchener Freundin mit amerikanischem Pass, J.B. Morgan und Dr. Dr. David Haik rief ich der Reihe nach an. Morgan nahm mich mit ins Limelight, Nell´s und in die Webster Hall. Er war fast in allen Clubs plus 10! auf der Gästeliste und stellte mir Jessica Pine aus London vor. Sie war schon fünf Jahre Nanny in der Upper East Side und hatte sofort eine Idee, als ich ihr sagte, „I am in a bad situation!“.
Ich machte also einen Termin mit Suzanne Lehman und während wir gemeinsam im Fahrstuhl in den 22. Stock fuhren, war bereits klar, dass ich für sie arbeiten sollte. Sie fragte mich nach meinem Sternzeichen, sie und ihr Mann waren Schütze, Jessica ebenfalls, also wurde nicht diskutiert. David und Jeffrey waren auch Schütze, also im Grunde alle, ich kam klar!
Um in die Madison Avenue 94th Street zu ziehen, musste ich meine erste Adresse unauffällig verlassen. Die Kleinkind-Mutter hatte zwar das Round and Open Ticket bezahlt, jedoch hatte ich kein schlechtes Gewissen, sie ohne Begründung zu verlassen. Natürlich wartete ich, bis sie bei ihrem Kind war, um „spazieren“ zu gehen. Ich hatte zuvor sämtliche Sachen aus der Kleiderschrank Kammer bereits in die Madison Avenue gebracht, als ich meinen ersten Nanny-Job verließ. Ich hatte ihr eine Notiz auf meinem Bett hinterlassen, ihre Unterbringung und Behandlung war einfach unwürdig. Sie tat mir nicht leid, als ich sie mit ihrem Kind nach drei Wochen alleine ließ, ich war einfach erleichtert.
Sie sah mich Wochen später auf der anderen Straßenseite und flippte völlig aus, klar, sie hatte ja auch 900 Dollar für meinen Flug bezahlt. Mir waren die Wohnverhältnisse in NYC völlig neu. Dass jemand eine Kleiderkammer als Zimmer ausgibt, Menschen Unsummen für Hochhaus-Apartments bezahlen, stand in keinem Verhältnis zu dem, was ich zuvor erlebt hatte. Meine Wohn- und Arbeitssituation war bei den Lehmans in Ordnung. Ich bekam 325 Dollar die Woche. Den Kühlschrank füllten wir mit Dingen, die mir ebenfalls schmecken. Selbst die Marlboro light Packungen gingen mit auf die Liste. Mein Zimmer hatte einen Ausblick auf den Central Park, das Bett hatte Platz für zwei und ich hatte ein eigenes Badezimmer.
Die Mädchen waren sechs und sieben Jahre alt. Ich hatte zwei Tage in der Woche frei und endlich genügend Freiraum und Geld, um erst die Art Students League und dann die School of Visual Arts zu besuchen. Ich war zwar noch nicht 21, jedoch auf jeder denkbaren Gästeliste. David Haik hatte mich ins Naked Lunch bestellt, als ich ihn am Telefon von Susanne grüßte. Dort traf ich dann die nächsten Schützen, zuerst Jeffrey Schofield und dann David. Ab da an wurde es intensiv und sehr ereignisreich.
Es wurde zu einer Collage von Englisch lernen, mit Kindern spielen, Playdates bei den Diamonds im Penthouse in der Park Avenue, Eröffnungsparty des Club Gauguin im Plaza Hotel, Champagner und Austern am Swimmingpool im Stadthaus, Schlange stehen in der Studentenkantine, Einkaufen bei Pearl Paint, bei meinem ersten Besuch in der Vip Lounge im Tunnel mit Mickey Rourke auf dem Sofa sitzen, mit Jeffrey auf der Bühne des Club USA zu Ru Pauls Super Model tanzen und wieder Mickey Rourke beim Koksen ignorieren, Wochenenden in Deal New Jersey, Schoppen im Greenwich Village, Sushi im East Village, Freigetränke im I Tre Merli und Barolo, tanzen und knutschen mit Snoop, der sich an mich ranpirschte, mir einen Beaper verpasste und sich dann beschwerte, ich wüsste nicht, wer er sei (stimmte übrigens insoweit, dass ich ihn viele jähre später im Fernsehen wieder erkannte, er hieß Snoop Doggy Dog.), Schulveranstaltungen, Geigenunterricht, donnerstags im Tunnel verabreden und vom Türsteher mit „The german girl with the red coat and the top hat!, I´ll see you in the Vip lounge!“ empfangen werden, Toastbrote mit Erdnussbutter und Marmelade schmieren, auf schlittschuhfahrende Kinder im oberen Stockwerk irgendwo in der Nachbarschaft aufpassen, Kartoffelbrei mit viel Butter kochen, in der Buddha Bar Bier mit John F. Kennedy Junior trinken – und wieder: Ich wusste nicht, wer er war, ich glaube, Jessica hat’s mir dann gesagt -, Kinderzimmer aufräumen, Robert Redford beim Rausstellen seines Tannenbaums auf der anderen Straßenseite beobachten, im Unterricht Measuruing nicht nachvollziehen, weil mir Aktzeichnen bereits leicht fiel, Alec Baldwin zweimal beim Joggen um das Reservoir überholen, mit Steffi Deutsch reden, Rollerblades im Park, zum Telefonieren nach Deutschland im zweiten Stock der Chase Bank sitzen, weil es dort nichts kostet, Sigourney Weaver wegen ihrer Körpergröße bestaunen, die ihr Kind an derselben Schule abholt, 21 Rosen in Empfang nehmen und dem Türsteher des Naked Lunch verraten, dass ich bislang kein einziges Glas Wein hätte trinken dürfen, Jeffrey mit dem Münzapparat auf dem West Broadway anrufen, Seal mit dem Walkman hören und durch Soho laufen, U-Bahn mit einem Kommilitonen fahren und beim Aussteigen merken, dass mein Rock voller Menstruationsblut war, Schule vor lauter Scham wechseln, Kevin Costner mit zugezogener Kapuze im Central Park fast anrempeln, mit Nannys aus Norwegen und England vor der Schule warten, Sushi vom Tresen auf der Party von Barbara Streisand und Donna Karan im Naked Lunch essen, hinunterbeugend Paul Simon und seinem Bruder die Hand geben, weil der noch kleiner war, mit dem Galerie Look Besitzer und Türsteher vom Nell´s Auto fahren, einige Männer stehen lassen und nicht die Nacht mit ihnen verbringen, nachts mit jungen fremden Jungs über die Brooklyn Bridge fahren, um der Himmel über Berlin in deren WG zu gucken, morgens um 5 mit Wein im Blut noch rechtzeitig Zähne putzen und ins Bett, bevor eins der Mädchen zu mir ins Bett krabbelt, Puppenhäuser im Haus mit Privatstrand in New Jersey gestalten, mit dem Vater deutsch-jüdischer Abstammung Schindlers Liste gucken, mit den Playdates zeichnen und stolz als „weird nanny“ vorgestellt werden, Betten machen, Klopapier kaufen, Frühstück machen, Kinder ins Bett bringen, Hund mit Diarrhö Gassi führen, den Türsteher der Bowery Bar mit Kinderüberraschung bestechen, Naomi Campbell am Nachbartisch nach Portofino wieder ignorieren und wundern lassen, Hundescheiße mit Plastiktüte einsammeln, Ralph Lauren mit Hund auf der Straße treffen, mit Jessica in Suzannes begehbaren Kleiderschrank Klamotten ausprobieren, den Franzosen nicht verstehen, der mein Outfit mit Zylinder, Schottenhose, Gamaschen, Zigarettenspitze bewundert und sich als Jean-Paul Gaultier entpuppt, mit den Kindern Pippi Longstocking gucken, nicht einmal ins Guggenheim gehen, mit Schweizern aus dem Nepal über Aufenthalt ohne Visum sprechen, in der deutschen Botschaft nach Verlängerung bitten und ausgelacht werden, Kinderlied illustrieren in der SVA, Bücher lesen in englischer Sprache und vieles mehr.
Jeffrey fragte mich bei unserer ersten Begegnung, ob ich Tina, die junge Künstlerin aus Deutschland sei. Das zog sich so durch, und ohne dass mich jemals jemand nach meiner Ausbildung, nach Abschlüssen und Professoren fragte, wurde ich so akzeptiert und respektiert, wie ich war. Diese mentale Unterstützung und Wohlgesonnenheit ohne Neid, Angst oder Missgunst endete abrupt in Deutschland.
Das war mir in NYC gar nicht bewusst, erst später begriff ich, welche Kraft alleine Zuneigung und Akzeptanz auf mich und meine Arbeit haben. In Hamburg tat ich mich die erste Zeit sehr schwer, ich biss mir quasi 5 Jahre in den Hinterm, weil ich nicht einfach in NYC geblieben bin. Zwar hätte ich den Nanny-Job nicht dauerhaft machen können, mir also eine günstige Bleibe und einen Kellner Job organisieren müssen, um mehr Zeit für die Kunst aufbringen zu können. Weil ich nicht ahnte, dass mir das in Deutschland sowieso bevorstand, ich anscheinend verdrängte, dass ich längst schon keine Unterstützung von meiner Familie erhielt, machte ich den Schritt nicht in Manhattan, sondern in St. Georg, Eimsbüttel und in der Schanze.
Gut, ich wäre illegal in der USA geblieben, wahrscheinlich hätte ich locker eine Lösung gefunden, wie gesagt, ich ahnte es nicht. Die Lehmans verließ ich sehr abrupt während sie im Urlaub waren. Den Hund hatte ich in Obhut gegeben und kümmerte mich natürlich darum, dass rechtzeitig Vertretung im Haus war. Ich hinterließ einen langen Brief und besuchte Suzannes Haus jedes Mal, wenn ich in der Stadt war. Den Kontakt hielt ich per Telefon aufrecht, was in den 90ern ziemlich kostspielig war, und fand die Mädels dann bei Facebook.
Mittlerweile ist die Kommunikation einfacher. Lexi, die damals 6-Jährige, habe ich 2009 dann das erste Mal wieder getroffen, und vor einigen Jahren hat sie mich hier in Hamburg besucht. Sowohl Jack als auch Suzanne kontaktiere ich, wenn ich in NY bin, sie sind beide schon lange getrennt, vielleicht weil sie Schützen sind, verstehen sie sich locker weiterhin.
Steffi war mein Anker in New York und wie eine weitere große Schwester für mich. Susanne war danmals Nanny und lernte Federico, David Haik, JB Morgan und Steffi während ihrer Zeit in New York in den 80ern kennen.
2018 war ich das letzte Mal in town, die erste Woche bei ihr und die Zweite konnte ich eine Wohnung in Harlem eines jungen deutschen Paares hüten. 2020 wäre dann der nächste Besuch fällig gewesen, weil ich möglichst alle zwei Jahre fliege, da kam leider der Quatsch dazwischen. Mittlerweile wohnt ihr Freund bei ihr.
Um nach NY zu fliegen, brauche ich mittlerweile einen anderen Anlass als die Gewohnheit. 2018 stand ich am Gleis und wartete auf den A-Train Richtung Manhattan. Ich bemerkte, ob ich auf die U3 Richtung Schlump, den South West Train Richtung Surrey warte, oder nun hier stand, machte zum ersten Mal keinen Unterschied. Wie auch immer, meine Energie war bislang stets aufgeladen, wenn ich dort war. Sie ist es auch, wenn ich Freunde in Italien besuche. Portofino und New York bleiben Orte, die ich zu meiner Heimat zähle, weil ich dort intensiver und liebevoller lernen, aufwachsen und sein konnte als in Hamm.
Ostenallee
Mutti und die beiden Schwestern zogen während ich in NYC war, wieder in die Ostenallee, diesmal auf Höhe des Kurparks in einer Neubauwohnung in einem Altbau. Mein Bett beanspruchte sie vollständig für sich, mein Fahrrad hat sich meine Schwester klauen lassen, Mario war eh raus, Oma war bereits gestorben, also löste sich dieser Teil meines Elternhauses nun vollständig auf.
- Naked Lunch: (17 Thompson corner of Grand St.) 212-343-0828, dieser Club war von außen nicht gekenntzeichnet und nur Eingeweihten bekannt.
- Nell’s: (244 West 14th Street in the Greenwich Village)
- The Tunnel: (220 Twelfth Avenue, Chelsea) https://youtu.be/e4yVRGTCv2A?si=fzAR4dqVaHuuwcj0
- The Bowery Bar (Bowery, 4th St.)