1. Ellmenreichstraße
Als mein Pass ablief und ich nicht so entspannt war wie die Schweizer-Tibeter, die in NYC blieben, sagte ich dem Zimmer auf St. Georg zu. Meine neue Adresse war neben dem Hamburger Schauspielhaus. Ich wohnte auf zwölf m2 für 270 DM in einer Dreier-WG mit zwei Studenten auf Lehramt. Und ja, Lehrer mag ich nicht besonders.
Wie ich mein Rennrad, meine Staffelei, den Marmortisch, meinen Friseur Stuhl vom Sperrmüll und den antiken Kleiderschrank nach Hamburg transportierte, weiß ich nicht mehr so genau. Ich erinnere mich, dass Mutti und Mario kamen und eine Mikrowelle für mich im Auto hatten. Bett und Bettwäsche musste ich mir neu zulegen.
In Hamburg stellte ich dann fest, dass ich besser in New York geblieben wäre. Ich hatte Probleme, Anschluss zu finden. Es war plötzlich wichtig, von wem man empfohlen wurde, woher man stammte, zu welcher Schule man ging, an welche Universität, zu welcher Gruppe man zählte, Firmennamen auf der Kleidung, … Ich war also wieder in Deutschland.
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, der Optimismus, die Risikobereitschaft, die permanenten Möglichkeiten, die vielen Situationen, in denen ich mit scheinbar Unerreichbaren gemeinsam war, die Offenheit, mit der mir diese erfolgreichen und sehr gelassenen Menschen begegneten und dieses Selbstverständnis, dass ich Künstler bin, war wieder Lichtjahre entfernt. Ich ahnte, ich musste mir all das aus dem Nichts wieder vollständig neu aufbauen. In Hamburg war ich niemand und, wie zu Hause auch, nicht herzlich willkommen. Einer solchen verdrehten Komfortzone musste ich den Kampf ansagen.
Personalausweis, Reisepass, Haftpflichtversicherung, Krankenkasse, Studentenstatus, Miete, Telefonkosten, Studiengebühren, Meldebestätigung, Einwohnermeldeamt, Exmatrikulation, Anmeldeschluss, Bewerbungsverfahren, Vorsorgeuntersuchung, Pflichtgebühren, Sonderabgaben, … Ich wollte das Land direkt wieder verlassen.
Um dem irgendwie Herr zu werden, nahm ich das Jobangebot des Bruders einer alter Bekannten meines Vaters an. Mit 18 hatte ich für eine Weile Kontakt mit ihm aufgenommen, bis sich Mutti einmischte und ich eine Anzeige wegen Falschaussage auf dem Tisch hatte.
Ab 9 Uhr Morgens war ich Bagger für die Marktforschung in der Osterstraße in Eimsbüttel. Ich sprach fremde Leute auf der Straße an, um sie für Statistiken im ersten Stock zu befragen. Für 20 Mark extra pro Fragebogen wurde ich vom Chef beauftragt, die nicht vorhandenen Probanden zu ersetzen. So habe ich für Black & Decker super Begründungen erfunden, dass sie ihr Produkt für den Markt darauf änderten, denn in Paris und London fielen die Befragungen wohl auch aus. Lange habe ich dieses Spiel nicht durchgezogen, dazu war auch der Telefondienst zu entwürdigend. Die Chefs taten mir einen Gefallen, als sie mich rauswarfen. Nur woher das Geld?
Nach dem Abitur hatte ich mich an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf für irgendwas eingeschrieben, da für Kunst Absagen reinrasselten. Münster und Düsseldorf wollten mich 1994 nicht. Ich erfuhr allerdings, dass es nicht unüblich sei, dass sie gerne schauen, wie ernst man es meint. Mein Plan war also, mich erstmal weiter in der Düsseldorfer Akademie auszuprobieren, dort Fuß zu fassen und mich im Folgejahr wieder zu bewerben. Gleichsam war mir bewusst, dass ich den Professoren gewissermaßen schutzlos ausgeliefert war. Ich war zwar schon zwanzig, allerdings biologisch ein totaler Spätzünder.
Immendorf, Baselitz und Lüpertz erweckten bei mir zu der Zeit den Eindruck knallharter Hedonisten. Konrad Klapheck hatte die Idee, ich solle Illustration statt Kunst machen, und irgendwie fand ich die Idee, in Deutschland zu studieren, dann doch nicht mehr so gut. Susanne, die Mutter der beiden Jungs in Portofino, hatte es leicht, mich davon zu überzeugen, stattdessen wie sie auch in den 80ern in New York Kunst zu studieren. Dass ich kaum Englisch sprach, war mir egal, ich kam in Italien verbal ja auch zurecht.
Nun war ich also nicht in Düsseldorf, nicht mehr in New York, noch an keiner Kunsthochschule eingeschrieben und musste meinen Lebensunterhalt organisieren. Zwischenzeitlich war ich nicht mal krankenversichert. Mutti bezog weiterhin mein Kindergeld, meldete mich bei der Versicherung ab und schwieg darüber gekonnt wie gewohnt. Vom Vater gab’s nichts, es hieß, meine Schwester und ich würden später mal die Häuser erben. Den Unterhalt, den er meiner Mutter monatlich hätte zahlen müssen, klagte sie ein. Als ich ca. Mitte/Ende zwanzig war, wurden 60 K auf mein Konto überwiesen, die ich dann vollständig an die Mutter überwies. Schön doof. Das zur Frage, „Wem nützt das Geld, wenn man’s behält …“.
Falls sich jemand fragt, Etti heiratete nochmal und „enterbte“ Eva und mich, was gesetzlich sowieso nicht geht, jedoch blieb eh so gut wie nichts übrig. Ich hatte den Kontakt wieder neu aufgenommen und mich während meiner Ausstellung in einer seiner noch nicht abbezahlten Immobilien 2006 mit ihm sehr klar ausgesprochen.
Mai 2008 starb er mit 55 an seinem dritten Herzinfarkt. Sein älterer Bruder hatte über Jahrzehnte so viele Kartenhäuser gebaut, dass er nicht nur meinen Vater für sich arbeiten ließ. Er war Tiefenpsychologie und wahnsinnig gut im Verdrehen der Tatsachen zu seinen Gunsten. Obwohl, was er letztendlich davon hatte, ist bis heute fraglich. Um angeblich Steuern zu sparen, waren die Grundbucheinträge der alten und neu gebauten Mehrfamilienhäuser ziemlich konfus. Mal war mein Vater eingetragen, mal beide, mal nur der Bruder. Es war ziemlich halbseiden und ich war nun verantwortlich.
Weil weder meine Schwester noch ich je tausend Euro im Monat für die laufenden Kosten und Kredite aufbringen konnten, war der Gerichtsvollzieher auch schon mal zu Gast. Die neue Witwe hatte das Erbe dann doch ausgeschlagen, zu kompliziert die Verhältnisse, und die Schwester zu faul, zu doof oder eben schlau genug, mir einfach alles zu überlassen.
Ich zog also für ein paar Monate nach Hamm, quasi in mein Halb-Elternhaus. Ich wohnte in jener Werkhalle, in der ich zuvor ausgestellt hatte. Sie schloss an das Wohnhaus meines Vaters an, in dem nun Winfried wohnte. Wir mussten sowieso ständig Dinge gemeinsam regeln, weil er fast überall mit drin hing. Ich nutzte die Zeit und den Ort, um zu malen und um Klarschiff zu machen. Das Haus im Langewanneweg musste sowieso für den Verkauf entrümpelt werden. Daher war es sinnvoll, brauchbare Dinge und Erinnerung meiner Kindheit zu sichern. Nach dem Raubzug der Witwe war von Gold und Schmuck nichts mehr übrig. Für die Goldschmiedewerkstatt fand ich keinen Abnehmer, eine Tischtennisplatte habe ich verschenkt und die wenigen antiken Möbelstücke und eine gefüllte Werkzeugkiste stehen jetzt in meiner Küche. Das war es. Viel Arbeit, noch mehr Nerven und keine Häuser. Die Klopstockstraße 23 ließ Winni zur „Rettung unseres Erbes“ von einem Kumpel ersteigern, um es später für einen symbolischen Betrag zurückzukaufen. Was da genau gedreht wurde, bereitet jedem Kopfschmerzen. Die komplizierte Rechnung ging für mich später sowieso nicht auf, weil erst der Kumpel vorzeitig abtrat und 2021 der Onkel ebenfalls das Zeitliche segnete.
2. Schanzenstraße
Zurück zum Lebenslauf. Ich wollte studieren, ohne mich dabei zu verschulden. Die zwei ungenutzten Semester in Düsseldorf waren abgelaufen und in Deutschland brauchte ich jetzt einen ordentlichen Status. Als ich eine Absage von der Fachhochschule für Gestaltung in der Hand hielt, nötigte mich mein Mitbewohner, doch endlich mal Gefühle zuzulassen und nun vor seinen Augen zu heulen. Dass ich nicht weinte, als er mir beim Feiern den Kopf heftig stieß, nahm er mir nicht übel. Es wurde in der WG eine grundsätzliche Debatte vom Zaun gebrochen, die letztendlich dazu führte, dass ich in die Schanze in eine neue WG zog.
Ich hatte in dem Viertel bereits einen gut bezahlten Kellnerjob in Omas Apotheke gefunden. Meine zweite Adresse in Hamburg war für kurze Zeit in der Schanzenstraße. Mein Zimmer musste ich für 600 Mark komplett mit Laminat auslegen, damit das zum Rest der Wohnung passte, dafür half mir das Paar beim Umzug. Sie „malte auch“ und rastete aus, als mich mein New Yorker Freund besuchte, der morgens ohne Hemd grinsend am Küchentisch saß. Die Mitbewohnerin, deren Name ich tatsächlich nicht mehr weiß, trat ein ziemlich großes Loch in meine Zimmertür. Ich merkte dann nur an, dass ich die nicht bezahle und zog ein weiteres Mal in Hamburg um.
Als ich Jeffrey 1994 im Naked Lunch in Soho begegnete, war ich 20 und er 41. Wir schätzten uns jeweils ungefähr gleich alt ein und waren ehrlich gesagt beide schockverliebt. Wir sind uns heute auch mit räumlicher Entfernung nah wie zuvor, offiziell natürlich nie ein Paar. Wenn ich gefragt wurde, ob wir zusammen wären, fragte ich: „Siehst du ihn hier irgendwo?“. Wir waren zusammen, wenn wir beide am gleichen Ort waren, ansonsten eben nicht. Wir telefonierten viel, was zuerst ziemlich teuer war. Jetzt nach 30 Jahren rufe ich ihn manchmal an, weil er meine englische Übersetzung nachvollziehen und korrigieren soll. Seine Zwillingsschwester ist geistig behindert, sehr viel mehr muss ich dazu nicht sagen. Er hat sich vor langer Zeit für die brüderliche Verantwortung entschieden, da war für mich kein Platz.
In Omas Apotheke hatte ich bereits Timo und Paul kennengelernt. Die beiden kamen aus Kassel. Paul wohnte bei meinem Bar-Kollegen und spielte Donnerstag oft im Birdland Schlagzeug. Timo hatte noch keine Wohnung und sollte seinen Zivildienst zeitnah beginnen. Als er fragte: “Willst du mit mir zusammenziehen?”, sagte ich: “Ja!”. Es ist auch gut möglich, dass es umgekehrt war, jedoch passt es ganz gut zu Timo, dass er die Initiative ergriff. Wie auch immer. Als „Paar“ hatten wir bessere Chancen auf eine Wohnung. 1996 renovierten wir eine 50 m2 Wohnung im fünften Stock in der Högenstraße.
3. Högenstraße
Die „Oelkapeller-WG“ wurde eine einzige Jazz-Party, die 1,5 Jahre anhielt. Timo und Paul waren kaum zu trennen. Timo verführte bis auf eine, die ich in meinem Zimmer porträtierte und die eher auf Paul stand, alle meine weiblichen Besucher. Ich meine, er schlief einfach mit all meinen Freundinnen und selbst meine Schwestern fanden ihn besonders hinreißend. Als mich Nina, meine Schulfreundin aus der Rau Familie aus Unna besuchte, saß ich plötzlich alleine in der Küche und rief: „Timo, das ist mein Besuch, beeil dich mal!“. Als Ausgleich bemühte sich Timo, mich mit einem seiner Freunde zu verkuppeln, selbst mit Paul, der oft neben mir im Bett schlief, wenn das andere voll besetzt war. Mein Mitbewohner konnte es einfach nicht glauben, dass ich platonische Freundschaften pflege und meine Liebhaber eher für mich behalte.
96´ war ich oft in Berlin und Köln, wir hatten ständig Besuch in der Högenstraße. Selbst meine Mutter kam in der Zeit mit einer Freundin nach Hamburg. Ich führte die beiden ins Heffner, dort kannte ich einen Teil der Crew. Es dauerte nicht lang und Mutti wollte mich mal wieder verkuppeln. Es gelang ihr seit meinem vierzehnten Lebensjahr nicht, dennoch ließ sie nicht locker. Daniel genau ein Jahr und zwei Tage älter als ich, war dann acht Jahre mit meiner Mutter liiert. Ich hatte eh kein Interesse, ließ die frisch Verliebten weiter flirten, gab Mutti den Zweitschlüssel und während ich mich vor dem Club verabschiedete, kam es im Gespräch dazu, dass ich lächelnd auf eine Frage von Daniel antwortete: „ … Ich habe gar kein Elternhaus und fahre jetzt nach Hause.“. Mutti war daraufhin total verletzt, am nächsten Morgen allerdings ziemlich verstrahlt und glücklich. Sie zog dann tatsächlich mit Laura nach Hamburg und mit Daniel zusammen. Eva, die mittlere Schwester, war mit der Waldorfschule durch und hatte einen Freund in Bremen.
In New York fiel es mir 94/95´leicht „einen Namen zu machen“ und so konnte ich immerhin einer Empfehlung nachkommen, dass ich auch als Neuling in der Hamburger Clubszene relativ schnell Fuß fasste. Ich gestaltete einen Club auf dem Hamburger Berg quasi als Naked Lunch Kulisse. In Soho war es der Name des Clubs, hier zitierte ich den kafkaesken Film von David Cronenberg. Einen von innen beleuchteten Pappmaché-Käfer habe ich noch eingelagert.
Timo und Paul brachten den Jazz, ich die Kunst und als es wieder an der Zeit war, bewarben wir uns alle drei fürs Studium. Es war in Deutschland insgesamt mein dritter Anlauf. Ich reichte meine Mappe in der HfbK ein und Paul wurde angenommen. Er lieferte mehr oder weniger zum Spaß ein Konzept für Design ein und studierte später dann wie Timo in Berlin, bzw. Potsdam Kulturwissenschaften. Paul traf ich 2009 oder 10 zufällig in Berlin Kreuzberg, er war nicht mehr der drahtige agile Jazz-Musiker. Er hatte sein Schlagzeug verkauft und arbeitete für Mercedes-Benz. Mir schien, dass seine Körpermasse dem Alkohol zu verdanken war, irgendwie erinnerte er mich in seiner Resignation und Traurigkeit an meinen Vater.
Timo arbeitete sich hingegen ziemlich schnell in der Kunstszene hoch, fing nach seinem Studium bei den KW an, war dann bei Johann und zog tatsächlich nach New York. Ich traf ihn entweder bei den Messen in New York, Köln und Miami oder besuchte ihn in den Galerien, in denen er arbeitete. Es waren stets bemerkenswerte Begegnungen. 2012 war er nicht gerade begeistert, als wir uns auf einer Preview First Choice V.I.P. Hotel Pool Party trafen. Harald Falckenberg überließ mir damals seine Karte, er hatte keine Lust auf Miami. Ich stand also unerwartet mit meinem alten Mitbewohner auf dieser Veranstaltung. Anscheinend störte ich ihn in seinem gewohnten Arbeitsablauf. Als die Sammlerin, die er mir nicht wirklich vorstellen wollte, interessiert meinen Jagdschein annahm, der meine Visitenkarte war, verschwand er plötzlich. Ich besuchte ihn dann zwei Jahre später und wir tranken in Dieter Roths Bar in der Galerie einen Café.
Das letzte Mal traf ich ihn 2018 im Büro in der Upper Eastside. Er lehnte sich in seinem Stuhl genüsslich zurück und sagte: „Du bist zu selbstständig, dass man mit dir arbeiten will und du bist nicht berühmt genug, dass man mit dir arbeiten will.“ , und so: „Na, dann habe ich ja alles richtig gemacht, Timo.“.
Als es klar war, dass wir unsere WG auflösen und wir bei meiner Freundin zu Besuch waren, die er wie üblich auch für sich beanspruchte, kam er auf die Idee: „Tina, du hast so schöne Augen!“, „Timo, die habe ich schon die ganze Zeit!“. Ich mag ihn einfach und es reicht auch vollkommen aus, dass er mit meinen Freundinnen schlief.
98´ wurde ich in der Armgartstraße mit Handkuss angenommen. Es war exakt die gleiche Mappe, die ich für die HfbK zuvor angefertigt hatte.
Dann war ich leider drei Monate lang wohnungslos. Timo und ich hatten beide den Mietvertrag unterschrieben, jedoch bekam ich trotz Rechtsbeistand den Vertrag nicht. Die Maklerin hatte von Beginn an einiges falsch gemacht. Als Timo und ich die Wohnung bereits vollständig renoviert hatten, hieß es, der Vermieter akzeptiere uns als Mieter nicht. Sie bürgte dann für uns, allerdings nur als Paar.
Ich musste also raus und hatte nichts Neues. Einen der Stahlspinde, die ich für Opas Briefmarkensammlung vermacht bekam, hatte ich Timo überlassen, einer wurde geklaut. Meinen antiken Kleiderschrank konnte ich wieder ohne Schrauben in sechs Teile zerlegen. Klappbett, Futon, Staffelei, Papierrollen, Küchentisch, Schreibplatte, zwei bis drei Stühle, Stereo Anlage, Kartons mit Büchern, Platten, Kassetten, Geschirr, Handtücher und Winterkleidung, so viel passte dann doch in das kleine Dachbodenabteil im selben Stockwerk. Die neue Bewohnerin unserer Wohnung weihte ich ein und holte drei Monate später alles ab. Die beiden Jungs, die mir helfen wollten, die Möbel und Kartons aus dem fünften Stock zu tragen, hatten entweder Rücken oder Durst.
4. Juliusstraße
Bemerkenswert fand ich in jedem Fall die Großzügigkeit und Gastfreundlichkeit einer beinahe Fremden, die mich zur Überbrückung in ihrer Wohnung gegenüber dem Café unter den Linden unterbrachte. Freunde waren dazu nicht in der Lage. Ich danke dieser fantastischen Frau!
5. Karolinenstraße
Ich war nun Student und hatte endlich einen ordentlichen Status. Camilla, ein Semester über mir, war so alt wie ich und studierte Mode. Wir beschlossen, zusammen eine Wohnung zu finden. Ich fragte jeden in der Schule, selbst die Professoren, ob jemand von einer Wohnung wüsste. Das hörte eine Studentin und verriet mir, dass ihre gegenüberliegende Wohnung in der Karolinenstraße gerade frei wäre. Für über tausend Mark bezogen wir die neue Wohnung und ich musste unweigerlich an Haus Galen denken. Sechshundert Mark für die Miete, Kaution, Nebenkosten, Semestergebühren, Lebensmittel, das war ein ganz schöner Batzen.
Das Studium konnte ich nicht voll auskosten. Bafög bekam ich erstmal nicht, dafür verdiente meine Mutter zu gut, allerdings, was bekam ich monatlich, zweihundert knapp vielleicht, glaube ich, das war wahrscheinlich das Kindergeld. Sie hatte sich neu eingerichtet und wohnte mit Daniel und Laura in Hamburg. Ich schleppte ihre Kisten und schraubte stillschweigend eine Kommode zusammen. Ihre neue Schwiegermutter bemerkte, dass ich innerlich bereits zurückgezogen war, doch selbst sie drang nicht durch oder noch logischer, es war meiner Mutter einfach egal. Später hieß es, sie hätte die 5 K, das sie für mich von den 60 K Unterhalt angelegt hatte, für den Umzug ausgegeben. Bis zu meinem 30. Lebensjahr sollte sich das noch hinziehen, erst dann hatte ich den Mut, meine Mutter tatsächlich zu konfrontieren.
Ich trug mittlerweile bis an die fünf Teller gleichzeitig durch die Galerie der Gegenwart und bediente Senatoren und andere Tiere dieser Gesellschaft. Es gab noch DM und das Trinkgeld wurde noch nicht sozialisiert. Das Restaurant zum Alten Rathaus, die Kantine des Schauspielhauses und das Ungers Gebäude gehörten gastronomisch zusammen. Das Team war großartig. Der Chef arbeitete genauso und wir tranken Taittinger, wenn die Gesellschaft meinte, sie müsse uns herabwürdigen.
Ich wurde für die Silvesterfeier 1999–2000 im Restaurant zum Alten Rathaus zur Betreuung der Senatoren und Co eingesetzt und forderte mit Engelsflügeln so einige steife Herren auf dem Dach des Hauses zum Tanzen auf. Ich sollte mich nie an diese hanseatische Zurückhaltung gewöhnen, dafür war zu viel Ruhrpott oder New York in mir. Man weiß es nicht so genau.
Bis zur Fachprüfung konnte ich das Pensum von Arbeit und Studium so durchhalten. Für eine Weile erhielt ich etwas Bafög, weil Eva auch kurz irgendetwas studierte. Dann verabredete ich mich mit Mutti, dass sie für ein Semester nichts zahlen müsse, mich dafür aber während meines Diploms unterstützen sollte. Es war eine klare Aufgabe, ich musste Miete aufbringen, Essen kaufen, Strom bezahlen und 2003/4 meinen Abschluss machen.