Armgartstraße
Ich war 24, im ersten Semester an der Fachhochschule für Gestaltung und hatte endlich meine erste Einzelausstellung in Hamburg: Mystik und Erotik in der Galerie Arterie im Karoviertel. Der Fußboden war im Souterrain mit Kieselsteinen ausgelegt, es gab drei oder vier Räume, die ich mit Klein- und Großformaten, abstrakten wie figurativen Bildern füllte. „Wer stellt hier alles aus?“, nahm ich als Kompliment. Ich verteilte die Einladungen auch an die Professoren. Einer von ihnen meinte auf dem Flur laut: „Im ersten Semester und schon eine Ausstellung mit Erotik, das geht doch gar nicht!“, und ich sagte: „Und ob das geht!“. Keiner der Lehrkörper überprüfte das im Anschluss persönlich. Dass ich „keine Angst vor Menschen“ hätte, war eine Beobachtung von Eckart Wendler, als ich neun Jahre zuvor bei ihm Moderne Malerei übte. Ich wusste nie genau, was er damit wirklich meinte, bis ich mich selbst auf der Bühne in der Aula der FH wiederfand, als der Fachschaftsrat gewählt wurde. Da stand ich wieder vor einer Horde fremder Schüler und war die Neue. Ich glaube, ich denke einfach zu wenig darüber nach, ob etwas peinlich oder unangenehm werden könnte und schwimme mich dann bereits warm im kalten Wasser, während andere noch vorsichtig ihre Schwimmflügel von ihren Eltern aufpusten lassen. Ob es gut oder schlecht ist, wenn einen die Eltern nicht oder schlecht behandeln, liegt eben auch an einem selbst, zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt. Ich glaube, den habe ich für mich früh genug gesetzt. Wie auch immer, das ist so ein Gefühl. Mich kannten also viele an der Schule und ich konnte mir wie immer kaum Namen merken. Die Mensa in den Kellerräumen war nicht in Betrieb und wir hatten keine Spinde, um unsere Farben einzuschließen. Es dauerte nicht lange, dann hatte ich das Problem gelöst. Allerdings erwischte ich mich dabei, wie ich Geschirr und Besteck den Studenten hinterhertrug, bis ich begriff, dass ich verwöhnte Kinder nicht mehr ändern wollte. Fürs Kellnern ließ ich mich zumindest bezahlen, denn ich bekam nur ein kleines Taschengeld, was „zum Leben“ nicht reichte.
Meine Studienzeit verlief eher unaufgeregt, für mich jedenfalls. Es gab so manche Professoren, die auf dem Treppenabsatz kehrt machten, wenn sie mich sahen, weil ich zu viele Fragen stellte. Mein Professor für Illustration ließ mich völlig in Ruhe, als er merkte, dass ich besser autark lerne und gab mir quasi frei. Ich besuchte das Fotolabor, lernte Siebdruck, Photoshop, Quark-XPress, Buchsatz, Trickfilm, Advertising Basics, versuchte mich in Illustration und machte ansonsten, was ich wollte. Ich war weder von der Armgartstraße noch von der Hfbk besonders begeistert. Vielleicht war es auch langsam genug. Was soll ich sagen, es gab keine spannenden Vorlesungen über Ästhetik oder dergleichen wie in Köln und Düsseldorf. Vielleicht war ich auch nicht mehr so leicht zu beeindrucken, wie mit sechzehn/siebzehn. Damals haben mich Nina und Volker, die beide etwas älter waren als ich, mit in die Kurse für Architektur und Aktzeicnen eingeschleust. Mein Studium für Kunst begann im Grunde 1989, nicht erst 1998. Ich hielt noch bis zum Diplom durch.
Auch wenn es „nur“ die Armgartstraße war, wie es manchmal hieß, wollte ich diese Sache vernünftig abschließen. Ich hatte oft genug geträumt, ich müsse mein Abitur wiederholen, was nach mittlerweile acht Schulen nicht verwunderlich war. Die Fachprüfung war eher unangenehm. Die Prüferin, deren Klasse ich nur pro forma besuchte, beschwerte sich über meine historisch unkorrekte Kleidung, die ich den Spielkarten-Figuren verpasste, sie beurteilte darüber hinaus: „Man kann keine Frida Kahlo malen!“. Zu der Zeit hatte ich bereits die Kellnerschürze geschmissen. Die Rathaus-Crew gab es nicht mehr, dann kellnerte ich kurz im persischen Sushi Restaurant in der Innenstadt und zum Schluss in der Amphore über den Kasematten an der Elbe, bevor ich in der Postergalerie im Kaufmannshaus Fenster dekorierte. Es dauerte nicht lange, bis ich dort auch meine eigenen Bilder hängen durfte. Darunter zwei Fridas, die wir für jeweils € 750,– verkauften. Daran dachte ich stillschweigend, als ich in der Prüfung getadelt wurde.
Illustration war so oder nicht mein Fach. Klaus Waschk bemerkte das: „Du machst Malerei, stimmt’s?“. Er half mir mit meinem Diplom Thema und war der Erste, der wusste, welchen Hasen ich 1994 in New York sah. Er sagte, dass sich um mich leider niemand richtig gekümmert habe, daher sollte ich nach meinem Diplom bitte nochmal zu Büttner gehen.
Während meines Studiums an der FH für Gestaltung, später Hochschule für angewandte Wissenschaften, besuchte ich parallel die Hochschule für bildende Künste und belegte Kurse bei Franz Erhard Walther und Michael Lingner. Klaus Waschk gab seine Kurse in der Wartenau, von daher bewegte ich mich eh schon in drei Gebäuden. Mich nach dem Diplom dann nochmal einzuschreiben, um offiziell einen wiederholten Abschluss zu machen, weil Werner Büttner in dem anderen Gebäude beamtet war, erschien mir reichlich umständlich und bürokratisch. Klar, das Renommee eines zweiten Diploms und die Möglichkeit von Sammlern und Galeristen entdeckt zu werden, war da, doch ehrlich gesagt, dafür fühlte ich mich zu alt. Einerseits, andererseits.
Ich klopfte dann doch mit meinem Portfolio in der Tasche an Büttners Tür. Etwas amüsiert über meine Direktheit oder Naivität versuchte er mich abzuwimmeln, da er keine Beurteilungen im Einzelgespräch abgeben dürfe, das ginge nur mit den Studenten im Kurs. „Also gut, dann gehen wir, Ihr Kurs fängt ja gleich an“, entgegnete ich. Ich saß dann inmitten von Studenten im Saal und hatte das Gefühl von lauter Künstler-Egos umkreist zu sein. Ich befand mich in einer Blase. Es schien belanglos, was ich zeigte. Nachdem sie gehört hatten, dass ich grade von der Armgartstraße kam, war alles Illustration. Dass ich nicht illustriere und zuvor bereits viele Jahre Schulung inklusive moderner Malerei, italienischer Avantgarde und etliche praktische wie institutionelle Erfahrungen intus hatte, kam nicht zur Sprache. Büttner sagte nicht viel, blätterte durch mein Portfolio, blieb kurz bei dem Bild „Pool“ hängen und meinte, es würde sein Auge noch nicht erfreuen. Ich reichte ihm meine Fotos meiner abstrakten Bilder. Dass ich was in petto hatte, fand er gut. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass es weniger um Talent, Qualität und Können, als vielmehr um Performance, Einstellung, den Willen nach Erfolg, Ruhm und Ehre ging. Die Tatsache, dass bereits zwei seiner Studenten auf dem Kunstmarkt breit aufgestellt waren, und die vielen Bierflaschen im Saal verstärkten für mich einen gewissen müden Eindruck. Unbehagen machte sich in mir breit, so langsam musste ich da raus. Büttner gab mir zu verstehen, dass es wenig Sinn mache, weiterzustudieren. Für das was ich erwartete, gäbe es keine Kapazitäten an der Schule und ich solle einfach weiter machen. Ich fragte noch, ob ich das schriftlich haben könne, was er lächelnd abwinkte und ich verließ dankend den Saal.
Mein innerer Widerstand, wieder in ein System zu gehen, von dem ich mich grade gelöst hatte, war größer als der Wunsch, mich erneut als Student einzugliedern, in der Hoffnung, entdeckt und gefördert zu werden. Also kein Support, keine künstlerische Entfaltung im großen Saal, wieder zurück auf die Straße und eigenständig weiter wachsen. Ich sollte danach noch einige Male hören, „Bei wem hast du denn studiert?“, „Ach nur an der Armgartstraße“, bis diese Stimmen später vollständig versiegten.
